»Ich habe hohe Ansprüche an mich selbst«

Porträt

»Ich habe hohe Ansprüche an mich selbst«

Susann Entress

Porträt

Dezember 2022

Vier Kinder im Alter von elf bis neunzehn, verheiratet mit einem Hochschulprofessor, vollbeschäftigt und ein Managementjob in der Suchthilfe … was für viele kaum machbar scheint, ist für sie der ganz normale Alltag: Susann Entress, therapeutische Leitung der ambulanten Tagesrehabilitation in Ulm. »Sie ist die Seele unserer Tagesreha«, sagt Andreas Schmidt, Geschäftsführer der Suchthilfe. Das Porträt.

Text: Annette Scherer

Der Tag beginnt bei Fami­lie Entress wochen­tags bereits um 6.30 Uhr mit einem gemein­sa­men Frühstück. »Die gemein­sa­men Mahl­zei­ten mor­gens und abends sind für uns sehr wich­tig. Wir tau­schen uns aus, jeder kann erzählen, was er erlebt hat und was ihn gerade beschäftigt«, erzählt Susann Entress. »Unsere Kin­der sol­len spüren, dass wir trotz beruf­li­cher Bean­spru­chung immer für sie da sind.« Den Sams­tag nutzt die Großfami­lie meist für Haus­ar­bei­ten, sonn­tags ste­hen Ausflüge auf dem Pro­gramm. High­light des Jah­res sind die Fami­li­en­ur­laube mit dem Wohn­wa­gen.

Sobald die Fami­lie mor­gens außer Haus ist, checkt Susann Entress im Home­of­fice die ers­ten Mails. Die stu­dierte Psy­cho­lo­gin liebt ihre Arbeit und ihren abwechs­lungs­rei­chen All­tag, der gefüllt ist mit Orga­ni­sa­tion, Pla­nung der The­ra­pie­pro­zesse, Ver­sor­gung der Reha­bi­li­tan­den und Netz­werk­ar­beit. Während des Lock­downs hat sie 2020 ganz spon­tan neue digi­tale The­ra­pie­for­mate ent­wi­ckelt, die es möglich mach­ten, auch ohne ständige persönli­che Präsenz wei­ter behan­deln zu können. Diese For­mate sol­len jetzt dank staat­li­cher Förde­rung wei­ter aus­ge­baut wer­den.

Fast bei jedem Wet­ter fährt Susann Entress mit dem Fahr­rad zur Arbeit. »Ich brau­che sehr viel Bewe­gung. Am liebs­ten in der Natur – auf und im Was­ser oder beim Ski­fah­ren. Dabei kann ich gut abschal­ten und neue Kraft schöpfen.«

Die sym­pa­thi­sche Psy­cho­lo­gin ist in eine vom christ­li­chen Glau­ben geprägte Großfami­lie hin­ein­ge­bo­ren und in Tübin­gen auf­ge­wach­sen. Sehr früh hat sie sich dafür inter­es­siert, was in Men­schen vor­geht und sie beschäftigt. Ihr beson­de­res Einfühlungs­vermögen fiel schon damals auf. »Du hörst ja sogar das Gras wach­sen«, scherzte ihre Mut­ter immer wie­der, weil es kaum möglich war, etwas vor ihr geheim zu hal­ten. In der Ober­stufe des Gym­na­si­ums ent­schied sich die heute 53-Jährige für das Wahl­fach »Psy­cho­lo­gie« ...

Es folg­ten, Jahre später, ein Psy­cho­lo­gie­stu­dium, mehrjährige Jobs am Psy­cho­lo­gi­schen Insti­tut der Uni Tübin­gen, in der psych­ia­tri­schen Abtei­lung am Uni­kli­ni­kum Ulm und in einer psy­cho­the­ra­peu­ti­schen Pra­xis, in der die Behand­lung von abhängig­keits­kran­ken Men­schen mit im Fokus stand. »Schon damals bin ich immer wie­der mit sucht­kran­ken Men­schen in Kon­takt gekom­men«, erzählt sie. Dass sie sich vor fünf Jah­ren für die Tages­re­ha­bi­li­ta­tion der Sucht­hilfe ent­schie­den hat, habe am inten­si­ven Wer­ben ihrer Vorgänge­rin gele­gen. Und daran, dass sie ihre Pati­en­ten lie­ber inten­si­ver beglei­ten wollte als nur die in einer Pra­xis übli­che eine The­ra­pie­stunde pro Woche.

Ein hal­bes Jahr nach ihrem Ein­stieg wurde ihr bereits die Lei­tung der Ein­rich­tung ange­bo­ten. »Ich habe lange über­legt, ob ich das machen soll, weil ich hohe Ansprüche an mich sel­ber habe«, gesteht sie. Da sie sich neuen Auf­ga­ben immer gerne stellt, mit­ge­stal­tet und Verant­wor­tung über­nimmt, hat sie sich am Ende – in Abstim­mung mit der Fami­lie – dafür ent­schie­den, die neue Her­aus­for­de­rung anzu­neh­men. Und dies nie bereut.

Übri­gens: Wer bei »Tages­re­ha­bi­li­ta­tion« an ste­rile Kli­ni­kat­mo­sphäre denkt, liegt völlig falsch: Die Räumlich­kei­ten mit Tisch­ki­cker, Sofas und rie­si­ger Son­nen­ter­rasse erin­nern viel eher an eine Wohn­ge­mein­schaft. »Wir haben ganz bewusst im pro­fes­sio­nel­len Kli­ni­krah­men Räume zum Wohlfühlen geschaf­fen. Unsere Pati­en­ten sol­len sich ange­nom­men und wohl fühlen. Wer sich öffnet, den können wir unterstützen und auf sei­nem Weg aus der Sucht beglei­ten«, erklärt Susann Entress. Gerade im enge­ren Zusam­men­le­ben sei es nur schwer möglich, dau­er­haft ein Bild von sich auf­recht­zu­er­hal­ten, das nicht wirk­lich vor­han­den sei.

Wenn sich die Fami­lie am Abend aus­ge­tauscht hat, die Kin­der ver­sorgt und im Bett sind, folgt für Susann Entress eine ganz beson­dere Zeit der Ruhe und Besin­nung: »Diese Zeit ist sehr wich­tig für mich. Ich lasse vie­les Revue pas­sie­ren und plane den nächs­ten Tag«, erklärt sie. Und wenn sie zu Weih­nach­ten einen Wunsch frei hätte? »Dann würde ich mir wünschen, dass wir uns gegen­sei­tig mit Tole­ranz, posi­ti­ver Hal­tung, Wertschätzung und Dank­bar­keit begeg­nen und dadurch die Welt etwas fried­li­cher gestal­ten«, sagt sie.